Bei den Demonstrationen in Venezuela halten sich beide Seiten teils nicht an die gesetzlichen Regeln
Der Jurist Keymer Ávila über die Entwicklungen in Venezuela und die Rolle der Justiz
27 de mayo de 2017
Jürgen Vogt
Per Gerichtsurteil will Venezuelas Präsident Nicolás Maduro die Proteste gegen seine Regierung unterbinden. Herr Ávila, ist Venezuela noch ein Rechtsstaat?
Kein Staat der Welt erfüllt die dafür notwenigen Bedingungen zu 100 Prozent. Venezuela macht eine enorme Krise durch: Die Legitimität der Staatsgewalten ist zerrüttet, die Wirtschaft im freien Fall, die Inflation galoppiert, es mangelt an allem und die Mordrate rangiert mit 70 Morden pro 100 000 Einwohner in der Weltspitze. Das alles treibt die Menschen auf die Straßen. Das friedliche Demonstrieren ist ein in unserer Verfassung garantiertes Grundrecht. In Artikel 68 steht, dass alle »Bürger und Bürgerinnen das Recht haben, friedlich und ohne Waffen zu demonstrieren«. Das Recht auf Demonstration ist nicht absolut. Die Bedingungen sind: friedlich und ohne Waffen. Straßenbarrikaden, Sachbeschädigungen, Plünderungen, der Gebrauch gefährlicher Substanzen sind konkrete Straftaten.
Ist die Justiz noch unabhängig?
Das venezolanische Justizsystem ist schon sehr lange in der Krise. Bereits 1998 vor Chávez Amtsantritt kam das UNDP (Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen, d. Red.) in einer Studie zu dem Schluss, dass die Bevölkerung der Justiz am wenigsten von den drei Staatsgewalten vertraue und, dass die Korruption ihr größtes Übel sei. Deshalb werden keine Anzeigen erstattet und in den ärmeren Schichten greife man zur Selbstjustiz. Heute muss man sagen, dass sich das alles noch verschlimmert hat. Mit der Entscheidung des Obersten Gerichts, das Parlament zu entmachten, hat sich die Judikative zudem von einem Akteur für Konfliktlösung in einen Verstärker von Konflikten gewandelt. Die vorübergehende Entmachtung des Parlaments durch die Obersten Richter hat die jüngste Protestwelle mit ausgelöst.
Die bisherige Bilanz dieser Protestwelle sieht düster aus, oder?
Ja. Die Zahl der Todesopfer ist inzwischen auf über 50 gestiegen, die meisten von ihnen wurden durch Schusswaffen getötet. Acht Personen wurden mutmaßlich von den staatlichen Sicherheitskräften getötet. Unter den Toten ist aber auch ein Unteroffizier der Nationalgarde. Bisher verlief die Mehrzahl der Demonstrationen jedoch friedlich, nur einige schlugen in Gewalt um. Es ist zu Straftaten gekommen, einschließlich der Angriffe mit Schusswaffen auf die staatlichen Sicherheitskräfte. Auf der anderen Seite gingen die Sicherheitskräfte in einigen Fällen unverhältnismäßig und willkürlich vor. Nach den Angaben der venezolanischen Nichtregierungsorganisationen wurden 2660 Personen festgenommen, von denen 1089 noch immer in Haft sind.
Wie ist die Situation der Verhafteten?
Die Haftbedingungen sind katastrophal. Aber das ist nichts Neues. Neu ist, dass sie heute mehr ins Licht der Öffentlichkeit rücken. Denn bisher saßen vor allem Menschen aus den ärmeren Schichten in den Untersuchungsgefängnissen. Jetzt sitzen dort auch Studierende aus der Mittelschicht. Die Haftanstalten waren schon vorher kurz vor dem Kollaps und nun hat sich die Zahl der Inhaftierten sprunghaft erhöht, was die Situation weiter verschlechtert. Das ganze Strafrechtssystem ist überfordert. Das verlangsamt die Verfahren und macht sie umständlicher.
Immer mehr Inhaftierte werden vor Militärgerichte gestellt. Traut die Regierung der zivilen Justiz nicht mehr über den Weg?
Wegen der allgemeinen Legitimationsund Institutionskrise muss die Regierung mehr Druck auf die Zivilgerichte ausüben. Aber es scheint, dass sie an Einfluss auf das Öffentlichkeitsministerium (Ministerio Público) verliert. Dieses Ministerium hat eine Schlüsselfunktion in unserem Strafrechtssystem. Es tritt als Ankläger auf und hat das Monopol auf die Strafrechtsverfolgung und leitet die entsprechenden Untersuchungen. Die Zahl der vor ein Militärgericht gestellten Zivilisten ist seit dem vergangenen Monat in die Höhe geschossen. Vorher war es die große Ausnahme. Inzwischen sind es 334 Personen. Offensichtlich sind die Staatsanwälte des Ministerio Público nicht mehr dazu bereit, Anklage in den Fällen zu erheben, bei denen gar keine erhoben werden kann. Sie wollen das willkürliche Vorgehen der staatlichen Sicherheitskräfte nicht absegnen.
Wer entscheidet, ob jemand vor ein Zivil- oder ein Militärgericht gestellt wird, und ist das legal?
Das ist eine Verletzung der Menschenrechte, allein aufgrund der Tatsache, dass Zivilisten, die keine militärische Straftat begangen haben, vor Militärgerichte kommen und des Verstoßes gegen das Anrecht auf einen zivilen Richter. Solche Prozesse sind zudem verfassungswidrig. Das wurde durch nationale Urteile als auch durch Urteile des Interamerikanischen Gerichtshofs bestätigt. Das Ministerio Público selbst hat dieses Vorgehen öffentlich infrage gestellt. Erst vor wenigen Wochen forderte es ein Gericht im Bundesstaat Zulia auf, 14 Personen, denen Sachbeschädigungen im örtlichen Rathaus und auf einem öffentlichen Platz vorgeworfen werden, der zivilen Gerichtsbarkeit zu unterstellen und nicht der militärischen. Anwälte von Verhafteten haben mir versichert, dass man dafür keinen eindeutig Verantwortlichen benennen könnte. Es hat den Anschein, als dass die Entscheidungen direkt von der Militärspitze getroffen werden.
Das Ministerio Público ist eine autonome Behörde, der seit 2007 Luisa Ortega vorsteht. Welchen Einfluss hat die Generalstaatsanwältin?
Generalstaatsanwältin Luisa Ortega vertritt die verfassungsmäßigen Positionen. Dies wird im Zuge der Krise seit dem Sieg der Opposition bei den Parlamentswahlen Ende 2015 zunehmend sichtbarer. Sie hat mutige Entscheidungen getroffen und das in einem Rahmen, in dem keine Institution ihre eigentlichen Aufgaben mehr wahrnimmt. Sie hat die Militarisierung der Kontrollen der Demonstrationen ebenso abgelehnt wie die willkürlichen Polizeiaktionen. Sie hat sich öffentlich gegen die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs ausgesprochen, die Nationalversammlung zu entmachten und gegen die Verfassunggebende Versammlung. Aber das Ministerio Público verfügt über keine eigenen Sicherheitsorgane und so ist ihr Einfluss eher symbolischer Art.
Wie unterscheidet sich die zivile von der militärischen Gerichtsbarkeit?
Formal betrachtet begehen Zivilisten eine Straftat, die durch das Strafgesetzbuch oder andere Gesetze abgedeckt sind und deren Ausgangspunkt der Schutz der Rechte der Personen ist. Zudem sind bei der zivilen Gerichtsbarkeit alle zivilen und grundgesetzlichen Rechte in Kraft. Bei der militärischen Gerichtsbarkeit sind die Grundrechte zugunsten der Staatssicherheit eingeschränkt. Straftaten militärischer Art werden vom Militärgesetzbuch behandelt, dessen Kern auf einer bewaffneten und militärischen Bedrohung der Staatssicherheit beruht. Überdies handelt es sich um Straftaten, die von Militärs im Dienst begangen werden.
Warum greift dann die militärische Gerichtsbarkeit bei Massenprotesten?
Politisch und ideologisch unterliegt sie einer Kriegslogik. Dabei herrscht das militärische Konzept der »Inneren Ordnung«, das zwar im Kriegsfall zum Tragen kommt und bei dem das Hoheitsgebiet vor inneren Feinden geschützt werden muss, die gegen das politische System vorgehen. In diesem Rahmen ist jede Aktion, die das System infrage stellt oder einem Risiko aussetzt als Bedrohung zu betrachten, gegen die konsequent gehandelt werden muss. Mit dieser Logik können Proteste als »Bedrohung« und protestierende Bürger als »Feinde « verstanden werden.
Gibt es einen Ausweg aus der Freund-Feind-Logik?
Wenn die Staatsspitze nicht regiert, machen Polizei, Militärs und kriminelle Banden, was sie wollen. Regieren ist etwas anderes, als sich krampfhaft an der Macht halten. Und gegenwärtig sind alle damit beschäftigt, sich entweder an der Macht zu halten oder sie an sich zu reißen. Die Extremisten der beiden politischen Pole haben uns zwischen dem gesetzeswidrigen Aufruf zu einer Verfassunggebenden Versammlung und der verfassungswidrigen Forderung nach allgemeinen Wahlen eingeklemmt. In dieser Gemengelage versinken die Bürger in der Unsicherheit.
Publicado originalmente en: Neues Deutschland